Hypervigilanz – Früh erlernte Wachsamkeit und warum du immer alles im Blick hast

Ria Döres • 15. August 2025

Wie frühe Unsicherheit im Außen zu ständiger Anspannung im Inneren führt


Viele Menschen erleben innerlich eine ständige Wachsamkeit – auch wenn sie äußerlich ruhig wirken. Immer „on“, immer bereit, sofort zu reagieren. Reize werden schnell zu viel. Ruhe fühlt sich oft fremd, unangenehm oder sogar bedrohlich an. Das Nervensystem steht unter Strom. Dieser Zustand – Hypervigilanz – ist meist tief verwurzelt in frühen Lebenserfahrungen.


1. Hypervigilanz ist eine Schutzreaktion auf zu wenig Sicherheit

Wenn in der Kindheit keine verlässliche Orientierung gegeben war – zum Beispiel durch emotional abwesende, unberechenbare oder überforderte Bezugspersonen – musste das Kind selbst wachsam sein. Vielleicht wusstest du nie: Wie ist Mama heute drauf? Wird Papa wieder wütend? Muss ich mich anpassen? Muss ich für Harmonie sorgen?


Dieses feine Abspüren von Stimmungen und Bedürfnissen anderer war damals überlebenswichtig. Dein Körper und Geist haben gelernt, jede noch so kleine Veränderung wahrzunehmen, um vorbereitet zu sein. Selbst wenn heute keine reale Gefahr mehr besteht, bleibt dieser Alarmmodus oft aktiv – weil das Nervensystem abgespeichert hat: Sicherheit gibt es nur, wenn ich alles im Blick behalte.


2. Der Körper kann nicht abschalten – auch wenn der Kopf weiß: Es ist vorbei

Vielleicht weißt du heute rational, dass du erwachsen bist, dass dein Leben anders aussieht und du nicht mehr alles kontrollieren musst. Und doch fühlst du dich ständig in andere hinein, spürst ihre Bedürfnisse, noch bevor sie ausgesprochen sind, und verlierst dabei leicht den Kontakt zu dir selbst. Dein Körper reagiert weiterhin mit Anspannung, Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit oder innerer Unruhe.


Das liegt daran, dass traumatische Erfahrungen nicht nur im Verstand oder in Erinnerungen gespeichert sind – sondern auch tief in körperlichen Empfindungen, automatischen Reaktionen und Emotionen. Alles ist miteinander verknüpft. Hypervigilanz ist daher selten ein bewusst gewähltes Verhalten, sondern ein tief verankerter Zustand im autonomen Nervensystem. Und genau dort – auf dieser Ebene – kann nachhaltige Veränderung beginnen.


3. Sicherheit kann nachreifen – in neuen heilsamen Beziehungserfahrungen

Das Nervensystem ist lernfähig. Selbst wenn es früher schwierige Erfahrungen gab – in der Kindheit oder in der Art und Weise, wie wir Beziehungen erlebt haben – können wir heute neue Erfahrungen machen, die zu mehr innerer Sicherheit führen. Wir können lernen, uns sicher zu fühlen, wenn wir uns mit Menschen umgeben, die uns einen stabilen, wohlwollenden Raum geben. Einen Raum, in dem Emotionen willkommen sind, in dem wir nicht für Harmonie sorgen oder etwas abspüren müssen – sondern einfach sein dürfen.


Solche heilsamen Begegnungen wirken tief in das Nervensystem hinein. Und gerade, wenn solche Menschen im persönlichen Umfeld fehlen, ist es umso wichtiger, sich professionell begleiten zu lassen – einen Ort zu finden, an dem du mit allem, was ist, gesehen wirst. Einen Ort, an dem du sicher bist, nicht verurteilt wirst und erfahren darfst: Du bist hier und jetzt in Sicherheit. Du bist gut, so wie du bist. Du musst dich nicht ständig anpassen oder für die Bedürfnisse anderer sorgen – deine eigenen Bedürfnisse sind ebenso wichtig und dürfen gelebt werden.


Ein leiser Nachklang

Hypervigilanz ist kein Zeichen von Schwäche, sondern der Beweis, dass dein System ganz zuverlässig und seit langer Zeit wichtige Arbeit leistet, um dich zu schützen. Doch Schutz darf sich mit der Zeit wandeln – von ständiger Anspannung hin zu innerer Ruhe.


Heilung geschieht nicht durch Druck, sondern durch kleine, sichere Schritte. Und auch wenn es sich manchmal so anfühlt: Es ist nicht hoffnungslos. Es gibt Wege, dich wieder sicher, geerdet und verbunden zu fühlen – und du musst sie nicht allein gehen. Du darfst nach Hilfe fragen. 

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